Die „philosophische Anthropologie“: eine deutsche Wissenschaft?

Die Selbstbehauptung der „philosophischen Anthropologie“ hat in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eine eigenartige Rolle gespielt. In vielerlei Hinsicht erscheint sie als Alternative, wenn nicht gar als Ausweg aus den philosophischen Alternativen, die die ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beherrschten – gleichsam als Schiedsrichter und Erbe des naturwissenschaftlichen Paradigmas, der Lebensphilosophie, der Kulturkritik und der phänomenologischen Revolution. Das verleiht ihr eine besondere Bedeutung in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts.

Max Schelers "anthropologische Wende" in den 20er Jahren ist kein isoliertes Phänomen gewesen. Man hat es viel eher mit einem Wuchern des anthropologischen Diskurses zu tun. 1928 erschien auch Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch. Nach Ilja Srubar hat Schelers "anthropologisch-soziologische Konzeption der Genesis sozialen Wissens eine Systematik und originäre Ausführung in dem Werk Helmuth Plessners" erfahren ("Max Scheler: Eine wissenssoziologische Alternative", in: Kölner Zeitschr. f. Soziologie u. Sozialpsychologie, 22 [1980], 255). Von 1919 bis zur Berufung Schelers nach Frankfurt 1928 haben Scheler und Plessner in Köln gleichzeitig, wohl aber auch ohne engere persönliche Kontakte zu knüpfen, nebeneinander gearbeitet. Der 16 Jahre jüngere Plessner hat immerhin im Vorwort zu den Stufen die Vorarbeit Schelers explizit gewürdigt, wobei, so meint er, die "wesentlichen Unterschiede im Ansatz der Probleme nicht übersehen werden" dürften. Plessners Skriptum war im Herbst 1926 abgeschlossen worden. Es kam vor Ort in Köln zu Prioritätsstreitigkeiten, die durch die Vermittlung von Nicolai Hartmann beigelegt wurden. Plessner habe sogar hingenommen, den Untertitel seines Buches abzuändern, der nun nicht mehr "Grundlegung der philosophischen Anthropologie", sondern bescheidener "Einführung in die philosophische Anthropologie" lauten sollte. Es wäre hier müßig, sich auf eine Debatte über die Urheberschaft des "anthropologischen Trends" der zwanziger Jahre einzulassen. Sieht man von aller polemischen Intention ab, hat Helmut Schelsky 1981 zumindest einen Überblick über diesen Trend gegeben, als er behauptete, daß Plessner die philosophische Anthropologie nicht originär entwickelt habe, sondern daß die eigentlich originären Ideen von Scheler stammten, die dann im übrigen von Gehlen weiterentwickelt wurden (Schelsky: "Die verschiedenen Weisen, wie man Demokrat sein kann. Erinnerungen an Hans Freyer, Helmuth Plessner und andere", in: ders., Rückblicke eines 'Anti-Soziologen', Opladen 1981).

Es ist nicht zu leugnen, daß es Gehlen gewesen ist, der als Hauptvertreter der neuen philosophischen Anthropologie rezipiert wurde, und daß man ihm das Verdienst zuerkennen muß, die Auffassung des Menschen als Mängelwesen weiterentwickelt zu haben in Richtung auf eine Institutionenlehre. Allerdings vermißt man bei Gehlen die (zweifelsohne äußerst schwierige) Reflexion über den Standort der Anthropologie als philosophischer Grundlagendisziplin, die gerade die Spezifität (wenn auch nicht unbedingt den Reiz) von Schelers Entwicklung vom Neukantianismus über die Phänomenologie zur "Metanthropologie" ausmacht.

Gehlen ist vielmehr ausdrücklich darum bemüht, diesen schweren Ballast loszuwerden. In seinem Aufsatz "Philosophische Anthropologie" teilt er die Entwürfe der philosophischen Anthropologie in zwei große Gruppen ein, "nämlich in solche mit metaphysischen Einschüssen, seien diese in letzter Hinsicht theologischer Herkunft, oder seien sie durch Überanstrengung besonderer Begriffe entstanden; und in andere Entwürfe, die wenigstens der erklärten Absicht nach sich allein im empirischen Bereich bewegen sollen" ("Philosophische Anthropologie", in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 2, 1971, 312). Das erste Satzglied ist ganz offensichtlich auf Scheler gemünzt, der von einer "theomorphen" Auffassung zu einer phänomenologischen "Wesenseidetik" überwechselte; das zweite mag sich auf Plessner beziehen, der als Biologe von Haus aus die philosophische Anthropologie nicht - oder nicht nur - von der Philosophie her konstruierte, sondern auf der Basis der biologischen Erkenntnisse seiner Zeit argumentierte. In seinem "Rückblick auf die Anthropologie Schelers" spricht Gehlen das strenge Urteil aus, daß es Scheler nicht gelang, "zwischen der rationalistischen Quasi-Metaphysik Nikolai Hartmanns und dem dann breit einsetzenden Strom der Schluß-Säkularisierung christlicher Residuen, die als 'Existenzphilosophie' sich darstellte, einen ein-deutigen Platz zu behaupten. Dies lag nicht so sehr an seinen mehrfach wechselnden Standpunkten, als an seinen etwas wolkigen Absolutismen, bei denen die 'Wesensschau', der er treu anhing, eine bedeutende Rolle spielte". Die metaphysischen Thesen Schelers seien, so Gehlen weiter, nicht eigentlich "bedeutsam", "sie sind sogar ausgesprochen konventionell. Übrigens glauben wir, daß Scheler das selbst merkte und in seiner letzten Frankfurter Zeit auf dem Wege war, die Metaphysik überhaupt als eine vertretbare Position preiszugeben". Für Gehlen ist die Frage "Was ist denn eigentlich 'der Schmerz selbst'?" (Stellung, GW IX, 40) "nicht beantwortbar, keine 'Ideierung' trägt so weit" (Gehlen, "Rückblick auf die Anthropologie Schelers", in: Paul Good (Hg.), Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, Bern / München, Francke 1975, 184-186).

Unser Projekt verfolgt die Absicht, der epochemachenden "Wende zur Anthropologie", die sich um 1925 vollzogen hat, kritisch Rechnung zu tragen und dabei eine Reihe von Fragen zu beantworten.

In welchem Verhältnis stehen die zeitgleich hervortretenden Ansätze der Phänomenologie, der Existenzphilosophie und der philosophischen Anthropologie zueinander? Was bedeutet ihre gleichzeitige Selbstbehauptung um 1925?

Weder in Frankreich noch in englischen Sprachraum ist eine ähnliche Konstellation zu beobachten: Die angelsächsische cultural anthropology fragte nicht nach "dem" Menschen, sondern nach der kulturellen und ethnologischen Verschiedenheit der Menschen und etablierte sich als Ethnologie und Soziologie. Diese Beobachtung wirft die Frage nach den spezifisch deutschen Motiven, die diese Konstellation bewirkt haben. Inwiefern bilden die miteinander konkurrierenden Ansätze einen Ausweg aus der Lebensphilosophie und der lebensphilosophisch begründeten Kulturkritik?

Bekannt ist, daß Husserl die philosophische Anthropologie für philosophisch naiv hielt. Inwiefern hat die metaphysische "Metanthropologie", wie sie Scheler genannt hat, eine tragfähige Alternative zur Phänomenologie als strenger Wissenschaft, wie sie Husserl geltend machte, dargestellt, und das heißt, inwiefern hat sie es wirklich geschafft, aus der Anthropologie die philosophische Grundwissenschaft zu machen?

Während Heidegger sich kritisch zur anthropologischen "Mode" äußerte und sie als "anthropologische Abschaffung, nicht Überwindung der Philosophie" (Holzwege) ablehnte, monierte u.a. Plessner die "Unmöglichkeit einer freischwebenden Existenzdimension" (Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1980-85, Bd. IV, 22). Durch ihren Anspruch, die Kluft zwischen der Philosophie und den empirischen Einzelwissenschaften zu überbrücken, gehört die philosophische Anthropologie zu einem allgemeinen Trend, dessen gemeinsamer Nenner darin besteht, die Phänomenologie zu konkretisieren. Nicht nur zeugt die Lebenswelt als Konzept der späten Phänomenologie Husserls von der allgemeinen Tendenz, die Endlichkeit und Faktizität in ihrer Konkretheit zu betrachten, sondern auch die Reflexionen des frühen Kracauer und des jungen Adorno nehmen in diesem Trend ihren Ursprung. Aber anstatt den Weg der philosophischen Anthropologie einzuschlagen, haben sie einen anderen Weg gewählt und später zum Anthropologieverdacht aufgerufen. Die Konkurrenz der Ansätze um 1925 erweckt deshalb den Eindruck, daß man es gleichsam mit einer Stunde der Entscheidung zu tun hat, und wirft wiederum die Frage auf, inwiefern die Antwort der "philosophischen Anthropologie" einer deutschen Tradition verhaftet blieb.

Das wirft um so mehr die Frage nach der Entwicklungsfähigkeit der philosophischen Anthropologie bzw. nach den Formen, die ihre Entwicklung angenommen hat, auf: Welche politischen Stellungnahmen hat sie gezeitigt oder genährt? Im Brennpunkt einer solchen Fragestellung stehen natürlich die beiden Fassungen (1935 und 1959) von Plessners Essay Die verspätete Nation (ursprünglich: Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche). Anstatt uns aber einfach zum "Anthropologieverdacht" zu bekennen, möchten wir der Frage nachgehen, inwiefern die Konjunktur der Anthropologie ein Symptom für die Krise des Geschichtsdenkens gewesen ist.

Der Auftakt des Projektes hat die Gelegenheit des Gehlen-Jubiläums 2004 aufgegriffen. Das Anlauftreffen im Herbst 2004 hat sich allerdings bemüht, die Entstehung von Gehlens Anthropologie in den Kontext der Wende zur philosophischen Anthropologie in den 20er Jahren einzuschreiben. Im Mittelpunkt der Reflexion stand auch das Verhältnis der philosophischen Anthropologie zur Phänomenologie (welches Menschenbild vermittelt der Sprachgebrauch des "Phänomenologischen" im Frühwerk Gehlens?). Problemfelder, die mit Gehlens Werk und Person zu tun haben - z. B. sein bestimmter Umgang mit Nietzsche (und seinem Menschenbild), dann vor allem Gehlens Funktion im Nationalsozialismus, seine Rezeption Fichtes, der (relative) Kontrast zu Rosenberg; ferner die (zeitgemäßen und unzeitgemäßen) Implikationen des späten Gehlen, um nur ein paar Stichworte zu nennen - sollten nicht ad hominem, sondern ideengeschichtlich und vor dem Hintergrund der Entstehung und Selbstbehauptung der philosophischen Anthropologie als wissenschaftlicher Disziplin behandelt werden. Allgemein wurde also, um das Forschungsprojekt anzubahnen, Gehlens Umgang mit anderen Denk- und weltanschaulichen Positionen in den Mittelpunkt gestellt und das daraus erwachsende Konglomerat auf ihre anthropologischen Gehalte hin befragt.